Hier sind zwei Bilder. Ein englischer oder deutscher Muttersprachler würde wohl sagen: „Ich sehe in dem einen Foto Hände und Arme, und im anderen sehe ich Füße und Beine.“ Ein russischer Muttersprachler hingegen würde jeweils nur an ein Wort denken: руки (ruki) im ersten Foto, und ноги (nogi) im zweiten. Im Russischen wird halt der menschliche Körper etwas anders aufgeteilt – ebenfalls logisch, aber eben anders: рука (ruka) reicht vom Arm bis zur Hand, und нога (noga) reicht vom Bein bis zum Fuß.
Hier ein weiteres Beispiel: im deutschen Sprachraum spricht man von zwei Arten von Schrauben, die eine mit einer Mutter, und die andere halt ohne. Im Englischen jedoch würde man die erste Schraube als bolt bezeichnen, und die zweite als screw und entsprechend als zwei völlig verschiedene Gegenstände wahrnehmen.
Unser drittes Beispiel: Gurken. Im Deutschen können das sowohl Schlangengurken als auch die kleineren, kürzeren Gurken sein, die in der Regel eingemacht sind. Alles Gurken! Im Englischen hingegen gibt es zwei verschiedene Wörter: cucumbers für Schlangengurken und gherkins für die die kleinere Sorte.
Diese Art von Problem tritt bei meiner Übersetzungsarbeit recht häufig auf, und so muss ich halt manchmal den Kunden zurückfragen, was denn genau gemeint ist, da meine Zielsprache – Englisch – mich eventuell zwingt, etwas genauer zu sein. Andererseits, ist auch oft das Gegenteil der Fall, und ich habe es mit einem Unterschied in der Quellsprache zu tun, den wir aber in der Zielsprache in der Regel nicht nachvollziehen würden. Beispielsweise hat das Russische zwei Wörter für blau: синий (sinij) und голубой (goluboj).
Ersteres ist hellblau und zweiteres eher dunkelblau. Während die beiden Farbtöne in den meisten Sprachen einfach nur als blau empfunden werden, würde ein russischer Muttersprachler die beiden Töne als verschiedene – wenn auch ähnliche – Farben wahrnehmen.
Aus russischer Sicht mag es sogar etwas befremdend anmuten, dass andere Sprachen diese offenbar deutliche Unterscheidung nicht machen: “Почему во многих языках нет различия между „синим“ и „голубым“? (Warum gibt es in vielen Sprachen keinen Unterschied zwischen sinij und goluboj?): https://thequestion.ru/questions/12537/pochemu-vo-mnogikh-yazykakh-net-razlichiya-mezhdu-sinim-i-golubym
Unsere chinesischen Freunde unterscheiden deutlich zwischen einem jüngeren Bruder 弟弟(dìdì) und einem älteren Bruder哥哥 (gēgē), einer jüngeren Schwester 妹妹(mèimei) und einer älteren Schwester姐姐 (jiějiě), Großeltern mütterlicherseits 外公, 外婆,(wàigōng, wàipó) und Großeltern väterlicherseits爷爷, 奶奶 (nǎinai, yéyé). Hier müsste also ein chinesischer Kollege seine indoeuropäischen Kunden jedes Mal um Präzisierung bitten.
In der Sprachwissenschaft spricht man hier oft von semantischen Feldern: verschiedene Sprachen teilen eine gegebene Realität (z.B. Farben, Verwandschaftsbeziehungen) jeweils anders auf. Man kann es sich als eine Landschaft vorstellen, in der die Grenzen verschiedentlich gezogen werden (in unserem Beispiel: innerhalb des Farbspektrum bzw. innerhalb der Verwandtschaft). Und wenn wir dann zwei oder mehr Sprachen miteinander vergleichen, so sehen wir ab und zu Überschneidungen und gegebenenfalls auch das Fehlen von Grenzen oder die Existenz ganz anderer Grenzen. Als Übersetzer stehe ich manchmal vor der Aufgabe, meine englische Wortwahl gegenüber deutschen Kunden zu rechtfertigen, da Kunden bisweilen eine Eins-zu-Eins-Entsprechung zwischen den Grenzlinien der beiden Sprachen annehmen.
Wir lesen ab und zu, dass die Kenntnis von mehreren Sprachen dabei hilft, Alzheimer-Krankheit oder Demenz zu verhindern. Auf jeden Fall zwingen sie uns dazu, etwas weiträumiger und weniger schablonenmäßig zu denken, eben die Dinge von verschiedenen Perspektiven zu betrachten – und das ist auf jeden Fall eine gute Lebenshaltung, die es sich lohnt, zu kultivieren: der Standpunkt des Anderen ist wahrscheinlich deshalb ein anderer, weil er – wörtlich – die Dinge anders sieht. Sobald für eine Sache „ein Wort existiert“, wird das Wort in unserem Denken eine festgefügte Kategorie, mit Hilfe derer wir dann die Welt um uns herum klassifizieren und unsere Gedanken zurechtlegen.
Dies gilt natürlich auch für abstrakte Begriffe. Sprachblogs im Internet sind voll von angeblich unübersetzbaren Wörtern, und es lohnt sich, ein bisschen herumzugoogeln. Die englischsprachige Welt staunt beispielsweise immer wieder über das deutsche Wort Schadenfreude, das oft unübersetzt übernommen wird, da man es im Englischen höchsten beschreiben kann, aber es gibt halt kein einziges, einfaches Wort. Ein anderes Beispiel ist das niederländische Adjektiv gezellig, das von den deutschen Wörtern gesellig und gemütlich nicht so ganz abgedeckt wird: es bezeichnet ein angenehmes Gefühl in der Gemeinschaft mit Freunden. Ein Niederländer, der beispielsweise sich zu einer Gruppe von Freunden in einem Café gesellt, sagt vielleicht: “Hier is het zo gezellig!” Da ich in der Regel nur ins Englische, nicht ins Deutsche übersetze, fällt mir hier keine gute deutsche Übersetzung ein, und – wie gesagt – die Wörter gemütlich und gesellig decken es eventuell nicht so recht ab. Im Englischen: “You’re obviously having a good time together!” ?
Manchmal klappt eine wörtliche Übersetzung recht gut in eine Richtung, aber nicht so sehr in eine andere. Zum Beispiel, das deutsche Wort Landeskunde hat sein Äquivalent im Russischen mit страноведение (stranovedenie), aber der englische Ausdruck cultural studies trifft es irgendwie nicht so ganz, obwohl er ihm schon recht nahekommt. Besser wäre: everything we know about a particular country – „alles, was wir über ein bestimmtes Land wissen“, was jedoch ziemlich langatmig klingt. Wikipedia drückt es sehr deutlich aus: „Die Landeskunde ist eine typisch deutschsprachige Forschungstradition, die sich mit der Erforschung eines Landes, einer Region oder eines Ortes in historischer, wirtschaftlicher, sozialer und kultureller Hinsicht befasst.“ https://de.wikipedia.org/wiki/Landeskunde
Hier sieht man schon, dass es mit Sprachen nie langweilig wird. ?